Diese Website verwendet Funktionen, die Ihr Browser nicht unterstützt. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf eine aktuelle Version.
Orientierung ohne Augenlicht

Wie Navigationsapps das Leben blinder Menschen erleichtern

Eine Multimediastory von Damian Davidis und Karl Schönherr

Der Ton kann über das Lautsprecher-Symbol in der Navigationsleiste wieder deaktiviert werden.



















0

Häufigkeit Blindheit/Sehbehinderung in Deutschland

weitere Zahlen/Fakten

"Laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes gab es am 31. Dezember 2021 in Deutschland:

71.260 blinde Menschen

46.820 hochgradig sehbehinderte Menschen

440.645 sehbehinderte Menschen

Gesamt: 558.725"

Quelle: Übersicht: Zahlen & Fakten - Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.























Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einer belebten Kreuzung. Autos rauschen vorbei, Menschen hasten über die Straße, Ampeln blinken. Doch anstatt sich auf Ihre Augen zu verlassen, orientieren Sie sich nur mit Gehör, Tastsinn und moderner Technologie.













Ich muss meine Wege finden auf der Straße. Damit geht ganz viel einher, also man muss sich viel durchfragen. Zum Beispiel, welcher Bus steht vor mir, welche Buslinie steht vor mir?

Kerstin Mirschberger







Kerstins Perspektive - Leben mit Sehbehinderung und moderner Technologie

Genau das haben wir erlebt, als wir einen Tag mit Kerstin verbrachten. Kerstin ist blind und hat nur zwei Prozent Restsehkraft. Sie navigiert sich durch den Alltag mit beeindruckender Selbstständigkeit – unterstützt von cleveren Hilfsmitteln wie Sprachassistenten, Blindenstock und speziellen Navigations-Apps. Doch wie gut funktionieren diese Technologien wirklich? Und wie könnte die Zukunft noch barrierefreier werden?

Neue Stadt, neue Arbeit, neue Herausforderungen

Erst vor kurzem ist sie von Stuttgart nach München gezogen. Kerstin muss sich in einer vollkommen neuen und unbekannten Umgebung orientieren. Dort hat sie eine Arbeitsstelle als zivile Angestellte an der Universität der Bundeswehr in München gefunden. Hier bekommt sie verschiedenste Hilfsmittel für ihren Arbeitsalltag zur Verfügung gestellt.

Eine zentrale Rolle bei der Arbeit spielt ihre Braillezeile, die den Bildschirminhalt in Blindenschrift umwandelt und es ihr ermöglicht, digitale Texte zu ertasten. Zusätzlich nutzt sie eine Vergrößerungssoftware, die nicht nur Texte vergrößert, sondern auch Farbkontraste umkehrt, um Blendungen zu vermeiden. Eine Sprachausgabe ergänzt die Funktionalität und erleichtert ihr den Zugang zu digitalen Inhalten.

Ohne diese Software könnte ich überhaupt nichts lesen.

Kerstin Mirschberger



Die Brailleschrift

"Seit der Erfindung der Blindenschrift durch Louis Braille sind blinde Menschen in der Lage, in einer Welt des Sehens selbst zu lesen und zu schreiben. Heute sind die sechs tastbaren Punkte mehr und besser verfügbar als je zuvor und das nicht nur in gedruckten Braillebüchern, sondern am Computer, auf Fahrstuhlknöpfen, Treppengeländern, Medikamentenverpackungen und Speisekarten."

Quelle: Recht auf Braille - Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.

Kerstin erklärt uns wie die Braillezeile am Computer funktioniert

Die Braillezeile

Blinde Menschen können dank Braillezeilen, die 1974 von Klaus Peter Schönherr erfunden wurde, Bildschirmtexte in Blindenschrift lesen. Diese Geräte werden über USB oder Bluetooth mit dem Computer verbunden und mithilfe von Treibern sowie Screenreadern gesteuert. Der Screenreader erfasst den Bildschirmtext zeilenweise und überträgt ihn an die Braillezeile, die die Zeichen durch ertastbare Stößel darstellt.

Quelle: Braillezeile – Was ist das? – Barrierefreie Informatik

Kerstin zeigt uns wie sie mit der Braillezeile am Computer Texte liest

Besonderheit der Braillezeile

Mit sechs Braillepunkten lassen sich 64 Zeichen darstellen. Für die Computerarbeit sind mehr Zeichen nötig. Daher ergänzt die Braillezeile jedes Zeichen um zwei weitere Punkte.

Quelle: Braillezeile – Was ist das? – Barrierefreie Informatik





Ein weiteres Hilfsmittel in ihrem Arbeitsalltag ist das Bildschirmlesegerät. Damit kann sie auch gedruckte Texte wie Briefe, Dokumente und Vorschriften entziffern. Dazu schiebt sie das gewünschte Dokument unter das Gerät, das die Schrift auf den Bildschirm vor ihr projiziert. Um lesen zu können, muss sie mit ihrem Restsehvermögen sehr nah an den Bildschirm heran. Das sieht auf den ersten Blick kurios aus. Kerstin nimmt es jedoch mit Humor.

0:00/0:00

















0:00/0:00

-Kerstin

BlindSquare

BlindSquare ist eine speziell für blinde und sehbehinderte Menschen entwickelte Navigations-App. Mithilfe von GPS und Sprachausgabe beschreibt sie die Umgebung, um so eine sichere Orientierung im Alltag zu ermöglichen.

McDonald’s in 30 Metern auf drei Uhr.

Ilkka Pirttimaa, Entwickler

Wie funktioniert BlindSquare?

BlindSquare nutzt eine Kombination aus GPS-Daten, OpenStreetMap und Foursquare, um Informationen über die Umgebung bereitzustellen. Die App erkennt nahegelegene Orte, Straßen und Kreuzungen und gibt diese über eine automatische Sprachausgabe wieder. Während des Gehens beschreibt die App kontinuierlich relevante Punkte wie Geschäfte, Bushaltestellen oder Restaurants. Nutzer können so gezielt ihr Umfeld wahrnehmen und ihre Route besser einschätzen.



Die häufigste Sehbehinderung in Deutschland, die vor allem im fortgeschrittenem Alter auftritt, ist die Altersabhängige Makula-Degeneration. Sie betrifft insgesamt 7.418.000 Menschen in unterschiedlichen Stadien.



So wird BlindSquare genutzt:

0:00/0:00

Die Anwendung ist darauf ausgelegt, möglichst intuitiv und freihändig bedienbar zu sein. Nach dem Start läuft sie im Hintergrund. Nutzer können so ihr Smartphone in der Tasche lassen. Statt einer klassischen Touch-Bedienung erfolgt die Steuerung durch Sprachbefehle oder über eine Bluetooth-verbundene Braille-Tastatur. Dank dieser Integration können auch taubblinde Menschen die App nutzen. Die Sprachausgabe mithilfe von Screenreader ermöglichen eine barrierefreie Navigation, ohne dass der Nutzer auf den Bildschirm angewiesen ist. Die App ist mit Navigationsdiensten wie Google(Apple) Maps kombinierbar, um Routenberechnungen und detaillierte Wegbeschreibungen bereitzustellen.



Die Technologie hinter BlindSquare im Überblick:

GPS: Bestimmt die aktuelle Position des Nutzers

OpenStreetMap: Liefert Karten- und Straßeninformationen

Foursquare: Ergänzt Informationen über Geschäfte, Restaurants und öffentliche Orte

Text-to-Speech (TTS): Wandelt digitale Daten in gesprochene Anweisungen um

Bone-Conduction-Kopfhörer: Erlauben eine gleichzeitige Wahrnehmung der Umgebungsgeräusche und der App-Ansagen





Wer steckt hinter der App?

„Du musst eine Lösung haben, die freihändig ist. Genau das habe ich erschaffen.“

Ilkka Pirttimaa, Entwickler

Ilkka Pirttimaa aus Finnland entwickelte BlindSquare, eine Navigations-App für Blinde, die ihre Umgebung per Sprachausgabe beschreibt. Als er vor etwa 15 Jahren auf die Idee kam, wusste er, wenn er die vorhandenen offenen Daten nutzt und sie mit Sprachausgabe und mobilen Geräten kombiniert, dann könnte er Menschen mit Sehbehinderungen helfen. Eine finnische Blindenorganisation erkannte das Potenzial und ermutigte ihn zur Weiterentwicklung. Wenige Monate später brachte er die erste Version auf den Markt.

Ein Problem bei herkömmlichen Screenreadern: Sie lassen sich beim Gehen nur schwer bedienen, besonders mit einem Blindenstock oder Blindenhund. Pirttimaa löste das mit einer vollständig automatisierten App. Pirttimaa trieb die Innovation weiter voran, unterstützt von seinem Geschäftspartner Rob Nevin.

Gemeinsam entwickelten sie die App weiter: non Kopfhörern, die mit Vibration funktionieren, bis hin zu Aufzügen und Ampeln, die mit der App verbunden sind.







Tragen blinde Menschen Kopfhörer?

Was wie eine banale Frage klingt, ergibt bei mehrmaligem Nachdenken immer mehr Sinn. Blinde Menschen müssen sich im Alltag auf ihre verbliebenen Sinne verlassen. Eines der wichtigsten Hilfsmittel ist dabei das Gehör. Vor allem beim Navigieren an einer Straßenkreuzung ist es immens wichtig, als blinder Mensch sein Gehör zur Verfügung zu haben, wie uns Kerstin erzählt. Wenn sie sich vorstellt, dass sie sich zusätzlich zu den Geräuschen, die sie viel stärker wahrnimmt als Sehende, noch auf Anweisungen über Kopfhörer verlassen muss, ist sie erschüttert.

0:00/0:00

-Ilkka Pirttimaa

Bone-Conduction-Kopfhörer bieten eine innovative Lösung für blinde Menschen. Diese Technologie überträgt gesprochene Anweisungen durch Vibrationen, die über den Schädel direkt ins Innenohr gelangen. Dabei wird das normale Hören nicht eingeschränkt, sodass Nutzer weiterhin Umgebungsgeräusche, wie etwa die Reflexionen ihres Spazierstocks, wahrnehmen können. Bone-Conduction-Kopfhörer ermöglichen es so, wichtige Informationen zu erhalten, ohne die Umwelt akustisch zu isolieren.

0:00/0:00

-Ilkka zeigt uns die Kopfhörer an sich selbst

Interessenpunkte - Point of Interest (POI)

Eine der nützlichsten Funktionen ist die Möglichkeit, eigene Interessenpunkte zu erstellen. Wenn Sie zum Beispiel auf einen tiefhängenden Ast stoßen, können Sie diesen Punkt markieren. Beim nächsten Mal, wenn Sie vorbeikommen, werden Sie daran erinnert. Das funktioniert auch über Sprachbefehle. Sagen Sie einfach „Erinnere mich an den tiefhängenden Ast 10“. Die Nachricht wird abgespielt, und „10“ zeigt die Entfernung in Metern an. So erhalten Sie immer eine Erinnerung, wenn Sie sich dem Punkt auf 10 Meter nähern. Das funktioniert aus jeder Richtung.

Rob Nevin, erklärt uns das genauer:

0:00/0:00

-Rob Nevin, Business Partner

0:00/0:00

Was Kerstin davon hält, erzählt sie uns hier:

Während herkömmliche Karten Straßen und Wege anzeigen, liefert BlindSquare darüber hinaus wertvolle Informationen für blinde und sehbehinderte Personen. Beim Annähern an einen bestimmten Punkt informiert die App automatisch über relevante Orte.

Eingang Maid’s Hall in 10 Metern auf zwei Uhr.

Rob Nevin

Zusätzlich berücksichtigt die App saisonale Änderungen. So informiert sie darüber, wenn Außenbereiche wie Treppen im Winter gesperrt sind oder alternative Rampen genutzt werden können

Treppe voraus, alternativ Rampe auf der rechten Seite

Rob Nevin

431

Point of Interests, darunter:

108

Gebäudeeinheiten

75

Kreuzungen

21

Bushaltestellen

  • Bild: BlindSquare

Die Karte von der Universität Guelph illustriert, wie BlindSquare genutzt wird. Hier werden beispielhaft alle Point of Interests dargestellt.

  • Bild: Canadian Encyclopedia

Zukünftige Reisen simulieren

0:00/0:00

- Rob Nevin

Eine weitere beliebte Funktion ist die Möglichkeit, Simulationen durchzuführen, die für zukünftige Reisen nützlich sind. Angenommen, Sie sind in Berlin, aber planen eine Reise nach London. Sie können einfach nach London suchen, die Simulation starten und die virtuelle Umgebung erkunden. Dabei können Sie sich informieren, wo die Pubs sind, welche Ihnen gefallen und diese als gespeicherte Informationen für später nutzen.

  • Bild: BlindSquare
Nice to know

BlindSquare hat mittlerweile fast 100.000 Nutzer weltweit, wird in 187 Ländern verwendet und ist in 27 Sprachen verfügbar. Das macht es nicht nur für die Länder interessant, in denen diese Sprachen gesprochen werden, sondern auch für Besucher von Touristenzielen wie Berlin. Hier wird das System zum Beispiel nicht automatisch Deutsch sprechen, wenn Ihr Muttersprache Englisch ist, erzählt uns Rob.

  • Bild: Canadian Encyclopedia

KONE-Aufzüge

Ein weiteres Wunder sind die KONE-Aufzüge. KONE ist ein führendes Unternehmen im Bereich Aufzugstechnologie und -lösungen. Sie entwickeln innovative Produkte und Dienstleistungen, um den Alltag der Menschen zu erleichtern. In Zusammenarbeit mit BlindSquare hat KONE eine Lösung entwickelt, die blinden und sehbehinderten Menschen hilft, sich sicher und selbstständig in Gebäuden zu bewegen.

Die App ermöglicht es Nutzern, mit ihrem Smartphone den Aufzug zu rufen, sich zum richtigen Stockwerk zu navigieren und dort weitere Anweisungen zu erhalten. Über die cloudbasierte KONE-Plattform sind die Aufzüge mit der BlindSquare-App vernetzt. Das erlaubt auch in Zukunft eine einfache Nachrüstung bestehender Aufzugssysteme.

  • Bild: BlindSquare

Barrierefreie Ampeln

Wir starten ein Projekt, mit dem wir EU-weite Systeme beeinflussen möchten, damit diese Lösung global verfügbar wird. So könnte jeder Ampelhersteller den Leitlinien folgen, um dieses System zu implementieren.

Ilkka Pirttimaa

Finnland als Vorreiter

In Finnland sind einige Ampeln bereits digital mit BlindSquare verbunden. Blinde Menschen können das Grünsignal per App, Sprachbefehl oder Apple Watch anfordern, ohne nach einem Taster suchen zu müssen. Die App informiert zudem in Echtzeit darüber, wann und in welche Richtung die Ampel grün wird. Das funktioniert dank einer direkten Schnittstelle zur Verkehrsleitzentrale. Diese Innovation macht das Überqueren von Straßen sicherer und komfortabler.

Ich habe eine API-Verbindung zum Ampelsystem. Daher bevorzuge ich immer diese Methode. Ich verwende also keine Kamera.

Ilkka Pirttimaa





  • Bild: BlindSquare

Situation in Deutschland

In Deutschland gibt es immer noch Schalter und akustische Signale an Ampeln. Doch diese sind nicht überall vorhanden oder leicht zu finden. Eine digitale Anbindung an Navigations-Apps fehlt bislang. Blinde Menschen müssen sich daher weiterhin auf akustische Signale, Apps mit Kamerafunktion oder ihr Orientierungsvermögen verlassen. Finnland zeigt, wie die Zukunft aussehen könnte. Mit smarter, barrierefreier Verkehrsinfrastruktur.

Es gibt Apps, die eine Kamera verwenden, aber das ist nicht sehr sicher.

Ilkka Pirttimaa

Bei App "Ampel-Pilot" hält Kerstin das Handy vor ihr Auge und versucht mit der Kamera die Ampel auf der anderen Straßenseite zu filmen. Wenn sie die Ampel getroffen hat, wird ihr angezeigt, in welcher Farbe die Ampel gerade leuchtet. Das funktioniert aber nur, solange sie mit der Kamera auf die Ampel zeigt. Wenn sie mit der Kamera nicht mehr auf die Ampel zeigt oder etwas dazwischen fährt, wird der Bildschirm weiß und sie muss die Ampel erneut finden. Wie das funktioniert, siehst du im Video:

0:00/0:00

Ampel-Pilot-App mit Kamera

Eine andere Variante, die mit Sicherheit die meisten kennen, ist die Ampel mit einem Taster und akustischem Signal. Diese funktionieren sehr zuverlässig sind aber nicht zwangsläufig an allen Ampeln zu finden.

0:00/0:00

Ampel mit Taster und akustischem Signal









Kerstins Wunsch

Apps, wie BlindSquare bieten bereits eine wertvolle Grundlage für die Navigation sehbehinderter Menschen im Alltag. Es hilft ihnen sich selbstständiger und sicherer durch verschiedene Umgebungen zu bewegen. Doch trotz dieser Fortschritte gibt es noch viele Herausforderungen zu bewältigen. In Deutschland leben etwa 558.725 blinde und sehbehinderte Menschen, und viele von ihnen kämpfen täglich mit den Barrieren, die ihnen der öffentliche Raum und öffentliche Verkehrsmittel auferlegen.

Kerstin hat in unserem Interview einen besonders wichtigen Wunsch, um den öffentlichen Nahverkehr für sehbehinderte Menschen noch zugänglicher und sicherer zu gestalten:



0:00/0:00